Mit Erfindungsgeist und Mut in ein neues Leben – Günter Wetzel floh 1979 als junger Familienvater in einem Heißluftballon aus der ehemaligen DDR

Es war still im Raum! Unsere drei zehnten Klassen erwartete ein Vortrag mit besonderem Inhalt: Zu Gast an der Realschule Bünde-Nord war Günter Wetzel, eine der acht Personen, der am 16.9.1979 die Flucht aus der DDR mit einem Heißluftballon gelang.

Über einen Kollegen unserer Partnerschule in Leisnig wurde der Kontakt zu Herrn Wetzel hergestellt. Schnell war ein Termin gefunden, der 18.6.25. Nun war es so weit, Herrn Wetzel und seine Lebensgeschichte kennen zu lernen. Im Geschichtsunterricht war der Zeitzeugenbesuch vorbereitet worden, Informationen über das Leben in der DDR vermittelt, Fragen formuliert, die die Schüler*innen Herrn Wetzel stellen wollten.


Zunächst berichtete Herr Wetzel über seine Kindheit und Jugend in der DDR. 1955 geboren und in einem ländlichen Elternhaus aufgewachsen, das dem DDR-Regime eher kritisch gegenüberstand, wuchs er unter anderen Umständen auf, als es seine Altersgenossen im Westen taten. Die DDR zu verlassen war illegal, seit 1961 bestand die Mauer, mit der die Regierenden versuchten, die Menschen im Land zu behalten. Es gab keine Meinungsfreiheit, keine Berufsfreiheit. Auch das Reisen war sehr eingeschränkt. Die SED (regierende Partei) nahm Einfluss auf die Erziehung der Kinder und Jugendlichen in Schule und Kindergarten sowie über die FDJ. Alles war auf eine sozialistische und angepasste Erziehung ausgerichtet. Wer in der FDJ nicht mitmachte, bekam Probleme und durfte z.B. nicht studieren.

Günter Wetzel war nicht Mitglied der SED und es traf ihn, er durfte nicht studieren. So wuchs der Wunsch, die DDR zu verlassen. Herr Wetzel, im Jahr 1979 bereits Vater von zwei kleinen Kindern, wollte für sich und seine Kinder eine Zukunft, in der sie freie Entscheidungen fällen und ihre Meinung offen sagen konnten. Er sah für sich kein Vorankommen in der DDR.

Die DDR legal zu verlassen war fast unmöglich. Einen entsprechenden Antrag zu stellen, bedeutete mit Repressalien rechnen zu müssen. Es stellte sich also die Frage, wie es gelingen könnte, die DDR mit der gesamten Familie zu verlassen.

Seit 1974 kannte Herr Wetzel Peter Strelzyk. Sie entwickelten den Plan, die DDR mit einem Heißluftballon zu verlassen. Eine von Verwandten aus dem Westen mitgebrachte Zeitung gab den Impuls. Es brauchte drei Versuche, bis der Ballon so gebaut war, dass er die Familie Strelzyk und die Familie Wetzel - jeweils vier Personen – in die Höhe bringen und fahren konnte.

Der Mut der Jugend sowie der unbändige Wunsch, die DDR verlassen zu können, ermöglichten den Kauf der Materialien, der nicht ungefährlich war, die beständige Näharbeit, die in den Händen von Herrn Wetzel lag und die Finanzierung des Projekts, die zum größten Teil Peter Strelzyk übernahm.

Am 15.September 1979 war es dann so weit: Das Wetter stimmte, der Wind sollte passend sein, der Ballon, der Korb, in dem die Familien fahren wollten, sowie die benötigten Gasflaschen waren vorhanden. In der Nacht, damit niemand etwas bemerkte, machten sich die Familie Strelzyk und die Familie Wetzel auf den Weg, zu einem 30km entfernten Ort nah an der Grenze zum Westen. Dort sollte der Ballon aufgebaut werden und von dort wollte man fliegen. Alles geschah immer mit dem Wissen, dass ein Entdecktwerden Gefängnis und Trennung von den Kindern bedeuten würde. Herr Wetzel berichtete jedoch davon, dass die Situation, in der sich alle befanden, keine Zeit ließ, um Angst zu haben. Jeder musste seine Aufgabe übernehmen und korrekt ausführen: Die Frauen nahmen die Kinder der Familie Wetzel auf den Schoß, die Jungen der Familie Strelzyk waren zum Fluchtzeitpunkt schon älter und hockten sich in die verbleibenden Ecken des Korbes. Günter Wetzel navigierte, Peter Strelzyk kümmerte sich um die Flamme. Der Ballon stieg. Leider vollzog sich die Fahrt nicht ohne Schwierigkeiten: Der Ballon fing Feuer, dieses konnte aber gelöscht werden. Eine Halterung des Ballons am Boden löste sich nur schwer und verletzte einen der Jugendlichen am Kopf. Der Wind drehte, so dass sich die Navigation erschwerte.

Und dann waren die Gasflaschen leer. Daraus ergab sich eine schnelle Landung aus 2000m Höhe, die mit einem harten Aufschlag auf dem Boden endete. Günter Wetzel zog sich durch den harten Aufprall einen Muskelfaserriss zu.

Es stellte sich jedoch die Frage, ob die Landung im Westen Deutschlands gelungen war oder sich die Flüchtigen noch auf DDR-Gebiet befanden.

Die Frauen versteckten sich mit den Kindern, die Männer hielten ein Auto an, durch Zufall ein Polizeiauto. „Sind wir hier im Westen?“, fragten Günter Wetzel und Peter Strelzyk. „Ja, wo denn sonst!“ war die befreiende Antwort. Die Männer holten ihre Frauen und umarmten sich und tanzten.

Anschließend berichtete Günter Wetzel noch über die Zeit nach der gelungenen Flucht. Seine Wünsche nach einem selbstbestimmten Leben und freier Wahlmöglichkeiten wurden erfüllt.

Heute spricht er in Schulen über die Zeit in der DDR und die Flucht und wird so zu einem Botschafter der Freiheit.

Wir bedanken uns für den fesselnden Vortrag und die ausführliche Beantwortung aller Schülerfragen.

(Fotos: BRO/Text: MUL)